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Schicksale, die uns berühren

Aus unserem aktuellen Infobrief | Juni 2019

Auf ein Wort

Kennen Sie Rolli? Er ist oft in den Räumen der Bahnhofsmission hier in Düsseldorf. Vor zwei Jahren hat es ihn aus der Bahn geworfen – „persönliche Umstände“, wie man gern sagt. Erst ging die Familie zu Bruch, dann das Arbeitsverhältnis, und am Ende stand die Straße. Aber trotz dieser Schicksalsschläge in seinem Leben hat Rolli nie aufgegeben. Er findet sich nicht damit ab, dass Obdachlosigkeit sein künftiges Leben sein soll. Er meidet die Plätze und Gruppen, die ihr gemeinsames Schicksal im Alkohol versuchen zu vergessen. Deshalb ist er lieber in der Bahnhofsmission, wo es ihm möglich ist, gegenüber Alkohol und Drogen „clean“ zu bleiben und wo er auch respektiert wird. Nachts muss er sich immer wieder irgendwo ein Plätzchen zum Übernachten suchen, aber am Morgen ist er wieder zurück. Und das immer mit dem festen Vorsatz durchzuhalten, bis er wieder eine Wohnung und eine Arbeit findet, auch wenn es lange dauert.

Das Leben hat ihm viel mitgespielt. Aber er hat sich nicht unterkriegen lassen.
Er ist einer von uns – unter uns. Und das, so meine ich zählt.


„Schicksale, die uns berühren“

Nicht jeder Zeitgenosse „schmeckt“ mir. Bei manchem spürt man die Eiseskälte der Gefühle schon von fern. Bei anderen hat man das Gefühl „Der kann einem nicht in die Augen schauen“. Aber die wenigsten von denen, zu denen ich innerlich keinen Zugang habe, leben auf der Straße. Dort herrscht zumeist eine Direktheit, die keine Umwege macht. Und das tut gut. Wie schon geschildert, ist Rolli einer von ihnen. Oder Susie oder auch Markus. Sie alle haben das Leben der Obdachlosigkeit durchgemacht, sind herausgefallen aus dem bürgerlichen Leben. Und dennoch haben sie ihre Würde, ihre Menschlichkeit bewahrt. Menschen, vor denen ich hohe Achtung habe.

Vom Schicksal geprägt

Susie kennt jeder, der nachts zum gutenachtbus in die Altstadt kommt. Oder genauer: Für die einen ist sie Susie, für andere Sandra. Der amtliche Name zählt nicht. Ihr Schicksal begann schon, als ihr aus Syrien stammender muslimische Vater die Tochter muslimisch erziehen wollte, während die Tochter selbst wie ihre Mutter den christlichen Glauben bevorzugte. Sie musste ihre Religionswahl immer wieder mit viel Tricks vor ihm verbergen. Am Ende, als der Vater die Bundesrepublik nach längerem Verfahren verlassen musste, wollte er sie mit Zwang mit nach Syrien nehmen, wohin er zurück musste. Nur mit viel Glück konnte sie sich ihm entziehen. Damals war sie 14. – Ihre Lebenspläne waren geordnet: Ausbildung als Kinderpflegerin, für Kinder da zu sein, auch für die eigenen. Aber eine Falle, die ihr 7 Männer zugleich stellten und in der sie sie einer nach dem anderen missbrauchten, zerriss ihre Lebensplanung. Dieses Trauma hat ihr Leben verändert. Sie konnte nicht darüber sprechen, wurde darüber zur Prostituierten – aus Scham vor sich selbst. Sie hat es niemals mehr geschafft, eine Berufsausbildung zu Ende zu bringen, weil die inneren Bilder sie zerriss. Bis heute. Gott sei Dank hat sie durch das HousingFirst-Projekt von fiftyfifty inzwischen eine Mietwohnung, nachdem sie viele Jahre in Notunterkünften hausen musste. An vielen Abenden und Nächten ist sie am gutenachtbus, wo sie Anklang und Zuspruch bekommt, und versucht, sich mit dem Verkauf der Straßenzeitung fiftyfifty sowie Hartz-IV über Wasser zu halten. Sie selbst macht das Beste aus ihrem Leben, schreibt Gedichte, übersetzt auf der Straße und hilft, wo sie kann. Aber über das tiefe Trauma ihres Lebens, ihrer zutiefst verletzten Scham, ist sie nie hinausgekommen. Es bleibt die tiefe Wunde ihres Lebens, auch noch 30 Jahre, nachdem es geschehen ist.

Der lange Weg zurück

Als ich Markus zum ersten Mal am gutenachtbus begegnete, hatte er mit allem gebrochen: seiner Familie in Köln, seinem Beruf, seinem Bekanntenkreis, der Gesellschaft und ihrer Stütze. Mit der Bierflasche in der Hand, so sehe ich ihn noch, dazu lebte er bewusst vom Sammeln von Pfandflaschen, ohne Hartz IV, das er als „Produkt“ der verhassten Gesellschaft ablehnte. Er lief jeden Morgen und Abend bis zu 5 km, um in seinem „Penthouse“, wie er es nannte, unter einer Autobahnbrücke im freien auf einer alten Matratze zu schlafen. Einen Hilferuf der Eltern über die Franziskaner in Köln, die er gut kannte, lehnte er brüsk ab. Er verbot sogar, darauf zu antworten; sie sollten nicht wissen, wo er war. Er war ganz und gar der Aussteiger, nachdem vieles im Beruf als Buchhalter schief gegangen und das persönliche Lügengebäude, mit dem er versucht hatte, seine Freunde und Eltern über seine Situation hinwegzutäuschen, zerbrochen war.

Freundschaften, die sich am gutenachtbus nachts entwickelten, bevor er um Mitternacht kehrt machte und zu seinem „Penthouse“ unter der Brücke wanderte, halfen ihm, nach und nach seine eigene Biografie anzunehmen. Ein Krankenhausaufenthalt, bei der die Sozialarbeiterin des Krankenhauses ihn überzeugen konnte, dass es ohne die Hilfe der Gesellschaft nicht geht, brachte den Gesinnungswandel. Inzwischen hatte sich auch schon länger seine „soziale Ader“ durchgesetzt und er, der am gutenachtbus von den Ehrenamtlichen unterstützt worden war, begann selber, bei „hallo nachbar“ sich für einen Behinderten einzusetzen und ihn Woche für Woche zu besuchen. Ebenso hilft er inzwischen, für die nächtlichen Einsätze des gutenachtbusses belegte Brötchen abzuholen. Inzwischen hat er auch durch das HousingFirst-Projekt von fiftyfifty eine Wohnung gefunden.

Der Schritt zurück in die Gesellschaft ist inzwischen in vollem Maße erfolgt. Er macht alternative Führungen durch die Stadt und hat in diesen Wochen sogar wieder eine Stelle als Buchhalter gefunden. Mit den Eltern ist er ausgesöhnt und besucht sie regelmäßig in Köln. Er ist zum Brückenbauer geworden – zwischen seinen ehemaligen „Kumpels“ und einer Gesellschaft, von der er lange nichts mehr wissen wollte. Inzwischen ist er wieder in ihr zuhause.

// Bruder Peter Amendt


Drei Menschen, drei unterschiedliche Biografien


Und allen gemeinsam: Sie brauchen uns, damit sie wieder sie selbst sein und sich entfalten können. Für sie sind wir da. Und für viele andere auch. Aber das geht nur, wenn wir die Mittel und den nötigen langen Atem haben.

Darum bitten wir Sie um Unterstützung für unsere Düsseldorfer Projekte gegen Armut und Not in Düsseldorf.

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