Menschen die Würde wiedergeben
Menschenrechte und Menschenwürde hängen eng zusammen. Eines geht aus dem anderen hervor. Der Platz, sie als oberste universale kulturelle und soziale Güter zu beschwören, befindet sich bei uns meist in Sonntagsreden. Dabei tun wir so und meinen es zumeist auch, als seien sie als Gemeingut von allen akzeptiert.
Andererseits aber erfahren wir immer wieder, dass zwischen Wort und Wirklichkeit, zwischen Anspruch und Verwirklichung ein großer Abgrund klafft. Nur allzu viele Bereiche unseres Lebens kennen die tägliche Verletzung der Menschenrechte und der zugehörigen Würde, und das nicht nur dort, wo der Übergriff offenkundig ist. Nein, auch in Bereichen und im täglichen Umgang, wo wir diese Übergriffe zuweilen gar nicht vermuten oder auch gewohnt sind sie zu übersehen, treffen wir auf sie: in der Familie, unter Bekannten und in Lebensgemeinschaften, im täglichen Beruf, auf der Straße und vieles mehr. Oft sind es scheinbare Kleinigkeiten, die aber dem oder der anderen klarmachen oder klarmachen sollen: „Du bist für uns Luft“, „Du gehörst nicht zu uns“ oder „Verschwinde!“. All das setzt den anderen oder die andere herunter und verletzt ihre Würde.
Dem im praktischen Tun entgegenzuwirken haben wir uns von Anfang an am gutenachtbus und bei hallo nachbar vorgenommen, gleich ob es darum geht, die menschliche Würde zu bewahren oder Menschenrechte zu schützen. Dabei erfahren wir immer wieder, dass gerade die Mitbürgerinnen und Mitbürgern in diesen Lebensräumen und Lebensformen häufiger als andere ausgegrenzt und in ihrer Wertschätzung und Würde herabgesetzt werden. Sie gelten durch ihre Lebensbedingungen und übernommenen Verhaltensweisen nicht selten als „anders“ als wir selbst, und das genügt oft für eine verachtende, gezielt herabsetzende Einschätzung und Behandlung durch Dritte.
Mit diesen unerfreulichen Erfahrungen, die wir alle von Zeit zu Zeit mitbekommen, wollen wir uns in vision:teilen nicht zufrieden geben. Vielmehr gilt unser Einsatz denen „am Rande“, damit auch für sie die eigene Menschenwürde und die Achtung als Mensch spürbar wird. Dieser Einsatz hilft, nicht nur dem einzelnen seine Würde wiederzugeben, sondern auf Dauer auch unsere Gesellschaft zu verändern – auf mehr Solidarität, Achtung des anderen und Hilfsbereitschaft hin. Und das im Alltag bei uns allen.
Drei Projekte – ein Ziel: Leben in Würde.
Wenn es sich darum handelt zu sagen, worum es bei „vision:teilen e.V.“ geht, ist die Antwort im Grunde sehr einfach: „Unser Name ist unser Programm“. „Wir möchten selbst teilen mit denen, die am Rande der Gesellschaft stehen.“ Gleich in drei Richtungen oder Projekte hinein wird das Teilen-miteinander wörtlich genommen: beim gutenachtbus, bei hallo nachbar und beim Projekt Housing First. Immer geht es darum, durch das praktische Tun Würde zu wecken und Würde zu schenken.
Einsatz für ein Teilen in Respekt und Würde am gutenachtbus
„Du Dreckskerl, warum machst Du das?!“ Wer sich nachts am gutenachtbus als Ehrenamtlicher oder Ehrenamtliche einsetzt, muss damit rechnen, zuweilen mit einem sehr groben Umgangston unter den Obdachlosen konfrontiert zu sein. Und wenn wir selbst eine ganz andere „Kinderstube“ gewohnt sind, schreckt uns eine solche Wortwahl sehr rasch ab. Dann ist es nicht mehr weit zur generellen Verurteilung: „Die sind alle so!“ „Die sind selbst schuld, wenn keiner sich um sie kümmert!“
Aber dieser raue Ton ist nur die eine Seite. Die andere zeigt sich in der Zärtlichkeit, mit denen sich oft zwei jüngere Obdachlose begegnen und füreinander da sind, gar nicht zu sprechen von der Liebe, die sie ihren Tieren zukommen lassen. Da kontrastiert nicht selten das äußere Bild mit dem „guten Kern“, den auch die in sich tragen, die schon lange auf der Straße sind. Der kommt durch, wenn die Ehrenamtlichen auf gleicher Ebene mit diesen „Klienten“ des gutenachtbusses miteinander sprechen und das „Danke, dass Ihr hier seid und helft!“ immer wieder zu hören ist. Und wehe, wenn einer oder eine der nächtlichen „Klienten“ am gutenachtbus versucht, sich vorzudrängen oder gar gegen einen oder eine der Ehrenamtlichen handgreiflich zu werden! Dann spürt er sehr bald, dass alle gegen ihn sind und die Helfer verteidigen: „Lass die Finger von denen! Die tuen uns doch nur Gutes!“
Oft genug entwickelt sich am gutenachtbus eine stille Freundschaft, die wiederum Mut macht, als Obdachloser oder Obdachlose doch noch einmal zu versuchen, den Schritt hinaus aus dieser als erniedrigend empfundenen Situation zu wagen, obwohl der Glaube n den Erfolg schon aufgegeben worden war.
„Du bist wertvoll!" Menschliche Würde und Entfaltung bei hallo nachbar.
Nicht weniger wichtig ist die Heilung der verletzten Würde bei Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die sich in dieser lebensfrohen Stadt Düsseldorf aus welchen Gründen auch immer zurückziehen und vereinsamen. Hier sind es die über 140 Ehrenamtlichen und das Team aus den 3 fest angestellten Sozialarbeiterinnen und einem Sozialarbeiter, die sich im Projekt „hallo nachbar!“ um viele der Vereinsamten und oft auch Verzweifelten kümmern und ihnen die Hand zur erneuten Integration in die Gesellschaft reichen.
Für jene Mitbürger und Mitbürgerinnen ist ihre Wohnung zugleich nicht selten auch ihr Gefängnis, denn allein schaffen sie es nicht nach draußen, auf die Straße, zum Friedhof, in ein Lokal, um unter Menschen oder bei ihren verstorbenen Lieben zu sein. Kein Wunder, weiß doch schon die Alltagspsychologie, dass ein Mensch ohne den unmittelbaren Kontakt zu anderen mit der Zeit verkümmert und die seelischen Belastungen sich wie Blei auf die Seele legen. Da sind Radio, Fernsehen oder Telefon nur ein mittelbarer und unzureichender Ersatz für die Begegnung mit einem Menschen, der sich für den regelmäßigen Besuch Zeit nimmt und in der Verrichtung oft kleiner Dinge für den anderen zeigt: „Du bist mir wertvoll“. “Ich mag Dich und bin für Dich da, wenn es mir meine Zeit erlaubt“ – und das heißt durchweg 3 – 4 Stunden die Woche. Das mag wenig sein, ist aber auf die Dauer ungeheuer wertvoll für den, der nur sich selbst als Gegenüber kennt.
„My home is my castle" - Zuhause sein ist alles! Würde zurückgeben durch „housing first".
Was den einen einengt, weil er seine vier Wände allein nicht verlassen kann und dort im wörtlichen Sinne „festsitzt“, ist für den anderen ein scheinbar unerreichbarer Wunschtraum. Denn wer es nicht geschafft hat, nach dem Fall in die Obdachlosigkeit – verschuldet oder nicht – sofort wieder da herauszukommen, hängt oft jahrelang in ihr fest.
Von daher ist der Weg zurück in eine eigene Wohnung das zentrale Element für die Reintegration in die Gesellschaft. Wie aber dies schaffen in einer Stadt wie Düsseldorf, in der auf jede frei werdende Wohnung stets viele Bewerber kommen, die eine Wohnung brauchen und bessere Bedingungen für den Vermieter bieten als Obdachlose mit Hartz-IV-Bezug, Mietbindung und bisher ohne festen Wohnsitz? Die Erfahrung hat gezeigt: Das klappt nur in den seltensten Fällen.
Aus diesem Grund nimmt vision:teilen teil an dem vor allem von dem in Düsseldorf ansässigen Sozialarbeiterteam vor Jahren angestoßenen Konzept des „Housing First“. Auch hier ist der Name Programm. Denn es gilt, zuerst eine Wohnung für Obdachlose zu beschaffen und dann alles andere danach anzugehen: Arbeit, Einkommen, soziale Reintegration. Von daher sind wir froh, inzwischen vier Wohnungen in Düsseldorf eigens dafür erworben zu haben, dass hier Menschen, die bisher ohne Wohnung waren, erneut ein festes, dauerhaftes Dach über dem Kopf und ihr Zuhause mit festem Mietvertrag erhalten haben. Sie alle haben so erstmals wieder die Möglichkeit und Chance erhalten, ein Leben in Würde und Anerkennung zu führen.
Auf diese Weise Würde vermitteln: Traum oder Träumerei?
Nun mag der eine oder andere, der dies liest, sagen: „Schon und gut. Aber stimmt das, dass Ihr immer Würde vermittelt? Oder scheitert das auch manchmal trotz guter Absicht?“ Sicherlich, das einzugestehen fordert die Ehrlichkeit, ist auch ein Scheitern möglich und kommt auch vor, vor allem, wenn beim Kontakt mit den Betroffenen etwa am gutenachtbus Alkohol und Drogen mitspielen, die Reaktionen unkalkulierbar machen. Natürlich gibt es auch den Fall, dass es sich bei hallo nachbar! nach einiger Zeit zeigt, dass der vereinsamte Nachbar oder die Nachbarin und der oder die Ehrenamtliche nicht zueinander passen und somit nicht zueinander finden, und dass trotz der Begleitung durch die Sozialkraft. Aber auch hier zeigt die Erfahrung: Das positive Ergebnis bis hin zu einer sich anbahnenden Freundschaft überwiegt bei weitem alle Situationen, in denen man sagen kann. „Dieser Versuch hat nicht geklappt.“ Vielmehr spüren wir immer wieder: Es lohnt sich, Menschen ihre Würde wiederzugeben und sie dazu zu bringen, sich selbst zu entfalten. Die Dankbarkeit, die dann herüberkommt, belohnt alle Mühen!
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