Notfonds für Opfer der Regenkatastrophe

Lebensschicksale – von der Begegnung mit Opfern und Helfern an der Ahr

Wie schon im letzten Newsletter berichtet, hat vision:teilen einen Notfonds für die Opfer der Regenkatastrophe eingerichtet, um längerfristig denen helfen zu können, die auch diesmal, trotz aller staatlichen Programme und der riesigen Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung, voraussichtlich wieder „durch die Maschen fallen“: alte Menschen, die mit ihrem Trauma übrigbleiben, Alleinstehende, die Wohnung und Arbeitsstelle verloren haben, Menschen, die demnächst nicht mehr wissen, wer noch Zeit für sie hat.

Von daher sind wir für jede Hilfe im Namen der Betroffenen von Herzen dankbar! 

Spendenkonto:
Stadtsparkasse Düsseldorf
IBAN: DE42 3005 0110 0010 1790 26
BIC: DUSSDEDDXXX
Stichwort: "Fluthilfe"

Jetzt unterstützen (online) >>
 

Düsseldorf:    Lebensschicksale – von der Begegnung mit Opfern und Helfern an der Ahr


Martina Pütz, Ehrenamtliche bei vision:teilen, ist seit der Regenkatastrophe jedes Wochenende zu Hilfe an die Ahr geeilt und legt auch an diesem Wochenende erneut im stark zerstörten Walporzheim Hand an. Ihre Schilderung aus erster Hand bewegt uns sehr und wir möchten sie mit Ihnen teilen. Sie schreibt:

 

„Hilfe gesucht!“

“Hilfe gesucht! Meine alte Heimat, Ahrweiler und Umgebung, ist völlig zerstört. Viele meiner Freunde haben alles verloren und brauchen Hilfe bei der Beseitigung der Schäden. Habe ich, bei meinen Düsseldorfer Freunden und Bekannten, Menschen, die am Wochenende Zeit haben zu helfen? Gerne PN an mich.“ 
Dieser Hilferuf erreichte mich am 16. Juli 2021 von einer Freundin aus Düsseldorf über Facebook.
 
Zum ersten Mal habe ich diese Nachricht gegen 20.00h nach meinem Ehrenamtseinsatz – Abholen von gespendeten Backwaren für den gutenachtbus – gesehen und direkt den Fernseher eingeschaltet. Ich konnte kaum glauben was über Hagen, Solingen, Wuppertal, dem Ahrtal und weiteren Orten  berichtet wurde. Angesichts von so viel Zerstörung habe ich spontan zugesagt in Walporzheim zu helfen, ein kleiner Weinort, der direkt an der Ahr liegt. Unser Anlaufpunkt ist Uwe in der Pützgasse, dessen Haus ebenso wie die Nachbarhäuser durch das Hochwasser ruiniert worden ist. Wir kennen Uwe schon länger über unsere Freundin.


Vor Ort in Walporzheim

Ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwartet. Das Einzige, was ich wusste: wir sollen Gummistiefel, Schaufeln und Wasser mitbringen. Strom und Wasser sei ausgefallen, es würde jede Hand benötigt. Und so war es am Ende auch. Was uns vor Ort erwartet hat, hat alles übertroffen, was wir uns nur auch ansatzweise ausgemalt haben. Der Ort war zum einen durch eine Schlammlawine über die Weinberge überflutet worden. Die Lawine hat alles in den Ort mitgerissen, was am Straßenrand und auf den Straßen stand. Autos Bäume, Weinfässer, Öltanks, Straßenlaternen, einfach alles. 

Überall lag Meter hoher Schlamm, durchsetzt mit Schrott. In den Häusern, Garagen, Weinlagern, Gärten und Grundstücken war einfach nichts mehr zu retten.
Bald war mir klar: Es war die absolut richtige Entscheidung dort zu helfen.


Rotweinstraße in Trümmern

Aus der Presse hatte ich bereits gehört, dass infolge der die Hochwasserflut der Ahr die Rotweinstraße völlig zerstört wurde und die kleinen Orte an der Ahr kaum noch zugänglich sind. Hier heißt es: "... von 35 die über die Ahr querenden Brücken sind im Kreis Ahrweiler 20 total zerstört..." (Quelle: www.vrminfo.de) Zum Glück kannte sich meine Freundin, die in der Nähe von Walporzheim aufgewachsen ist, in dieser Region aus, so dass wir mit unseren vier PKWs Walporzheim erreichen und in den Weinbergen am Ortsrand mit unseren Hilfsgütern parken konnten. Im Gepäck hatten wir neben Schaufeln auch Wasser für die Anwohner, die seit 4 Tagen ohne Wasserversorgung waren und auch belegte Brötchen für die Helfer, sowie Kleidersäcke und Hundenahrung - alles aus spontan gesammelten Spenden im Freundeskreis. Angekommen in der Pützgasse haben wir zwölf freiwilligen Helfer uns direkt daran gemacht die Haustüren, Stalltüren und Innenräume von den Schlammmassen zu befreien, die einfach nicht mehr zugänglich waren, da Lehm, Wasser und Geröll die Häuser bis zur 1. Etage  überflutet hatten. Es war dort fast nichts mehr zu retten.


Menschliche Schicksale
 


Während ich Lehm in Schubkarren schaufelte, berichtete mir ein 75 Jähriger, dass er seinen guten Freund aus dem Nachbarhaus verloren hat. Dieser sei einfach mit der Flut aus dem Haus mitgerissen worden, er hat ihn noch aus dem Fenster des 1. Stocks um Hilfe rufen sehen, konnte aber vom gegenüberliegenden Dach des Haus aus, auf das er selbst flüchten musste, nichts für ihn tun. Sein Freund gilt bis heute als vermisst. Eine Stunde später hat mir derselbe Mann mit strahlenden Augen berichtet, dass er 100 Euro in der Schublade seiner zerstörten Kommode wiedergefunden habe, die er dort hinein gelegt, hat um seine Frau im Krankenhaus zu besuchen, die gerade frisch operiert worden sei. Das war für ihn wie ein kleines Wunder. Überhaupt war er froh, dass seiner Frau in der Klinik nichts weiter passiert ist, denn die Klinik hatte es ebenso von der Flut erwischt. Eine Woche später, als ich nochmal in Walporzheim war, um Hilfsgüter von vision:teilen zur Pützgasse zu bringen, traf ich auf seine Frau, die mir erzählte, wie sie 4 Tage ohne Wasser im Krankenhaus ausharren musste. Die Toiletten auf den Zimmern konnten 4 Tage nicht gespült werden, er war einfach kaum auszuhalten für sie. Aber die Beiden haben sich noch und waren dankbar und glücklich über alle helfenden Hände - aus der Nachbarschaft, von Menschen, die einfach in den Ort gekommen sind, um anzupacken und von der Spendenbereitschaft der Menschen. Hier habe ich einen unfassbaren Zusammenhalt erlebt - trotz und gerade wegen dieser Notsituation.


Ein Lichtstrahl der bewegt


Auch Uwe hat ein schweres Schicksal. Dennoch ist für ihn die große Hilfsbereitschaft -  auch von uns - ein Lichtstrahl der ein wenig Sonne in die Katastrophe bringt. Er schreibt nach einer Woche der gegenseitigen Solidarität:

"Bitte Tina, wir wollen nichts überspannen, was nicht im Budget ist, fällt raus. Wir sind so dankbar, euch und viele andere kennen gelernt zu haben. Wir freuen uns sehr über die zielgerichteten Sachspenden, wollen aber nur das was möglich ist. Wohlwissend, dass es viele andere Menschen um uns herum genauso oder schlimmer getroffen hat. Wir leben, haben uns noch und dürfen deswegen zufrieden sein. Sitze noch mit meinem Bruder und meinem Schwager zusammen und versuche das ganze bisher passierte Revue passieren zu lassen. Dabei überwiegt tatsächlich die positive Erinnerung in dem ganzen Unglück."


Die alte Dame ohne Schuhe


Als wir uns gefragt haben, was denn besonders wichtig sein könnte bei der ersten Hilfe vor Ort an der Ahr, haben wir einfach Dinge zusammengesammelt, die uns hilfreich erschienen. Wir hatten gehört, dass die Kinder aus dem Ort in eine alte Schule gebrachgt wurden und dass sich die Frauen des Ortes abwechselnd um die Kleinen dort kümmern würden. Also packten wir Spielzeug und Kinderkleidung ein, die uns Freunde vorbeigebracht haben. Wasser wurde auf jeden Fall benötigt. Nicht nur für uns, sondern auch für die Anwohner und Helfer. Also packten wir große Wasserkarnister aus dem Baumarkt ein und Einmalwaschlappen, damit man sich wenigstens ein wenig reinigen kann. Und tatsächlich waren diese auch erforderlich, denn zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine provisorische Wasserversorgung im Ort. Und wir hatten einen Kleiderbeutel im Kofferraum, den uns Freunde aus Essen mitgegeben hatten. Ich vermutete, dass wir den Sack mit Kleidung vermutlich wieder mit nach Hause nehmen werden, da es keine Kleiderschränke in den Häusern mehr gibt, in die man hätte Kleidung aufbewahren können. Was mich dann aber am nachhaltigsten getroffen hat, war eine alte Dame am Straßenrand, die anderen Menschen Wasserflaschen angeboten hat, die an ihr vorbeigingen, weil dort Helfer einige Wasserflaschen für den Ort abgestellt hatten. Sie hatte keine Schuhe an und stand dort auf Socken. Mein Mann hat sie gefragt, warum sie hier im tiefen Lehm nur in Socken steht und antwortete: "... weil ich keine Schuhe mehr habe, sie sind alle im Lehm zerstört worden". Durch die Kleiderspenden, die wir - wirklich unwissend, was vor Ort gebraucht wird - mitgenommen hatten, könnten wir ihr tatsächlich ein paar Schuhe in ihrer Größe und ein paar Socken geben. Das waren die einzigen Schuhe und Socken, die in dem Kleiderbeutel waren, Größe 38. Diese Schuhe sollten wohl diese Dame erreichen, anders konnten wir uns es nicht erklären. Noch heute kann ich dieses Erlebnis nicht meinen Freunden berichten, ohne dass mir die Tränen kommen. Was ich aus diesem Moment mitgenommen habe? Eine selbstlose Frau ohne Schuhe teilt Wasser mit anderen Flutopfern - was für ein unfassbarer Zusammenhalt in Zeiten der Not.


Eimerketten


Eimerketten. Das ist ein Begriff der für mich exemplarisch für den Zusammenhalt in Walporzheim steht. Was ich erlebt habe war ein unfassbarer Zusammenhalt der Anwohner und eine selbstlose Unterstützung von helfenden Händen aus dem ganzen Land. Um die Keller und Wohnungen vom Schlamm zu befreien, sind Menschen von Haus zu Haus gezogen, egal ob es ihr Haus war oder nicht, egal ob sie den Anwohner kannten oder nicht, und haben menschliche Eimerketten gebildet. Diejenigen, die im Keller standen, waren zum Teil bis zum Hals im Schlamm, um Eimer für Eimer die braune, schwere und stinkende Lehmbrühe nach draußen weiterzureichen. Die/der Letzte in der Kette hat den Inhalt des Eimers dann auf die Straße geschüttet, wo sich auch alles andere an Sperrmüll, der aus den Häusern geschafft wurde, türmte. Soweit man blicken konnte, stapelten sich die Berge an Hausrat, defekten Weinfässern, Müll und Schlamm. Und vereinzelt konnte ein Teller oder eine Lampe gerettet werden, damit dem Menschen wenigstens ein paar kleine Erinnerungsstücke blieben.  Ich habe von einem der Anwohner erfahren, dass er nicht mehr ein einziges Foto übrig hat, das gerettet werden konnte. Er hat mir gesagt, dass er wohl so schlau war, seine Fotos auf eine externe Festplatte zu ziehen. Aber auch die externe Festplatte ist im Schlamm versunken. Die Eltern seiner Frau waren erst vor kurzem verstorben, und nun haben sie nicht mal ein einziges Foto von ihnen. Ich hoffe und wünsche, dass in den Eimern der Eimerketten doch noch das ein oder andere Fundstück zu Tage kommt. So wie es einem der Anwohner passiert ist, der in den Schlammmassen seinen Ehering wieder gefunden hat. Es sind auch diese Momente, die den Menschen hier wirklich viel bedeuten.


vision:teilen: spontane Hilfe


Die Vision zu Teilen und Menschen in der Not zu helfen, nimmt Bruder Peter ernst und wörtlich. Er hat lange und aufmerksam meinem Erfahrungsbericht aus Walporzheim zugehört als ich ihm nach meiner nächsten Brötchentour am 21.07. von der akuten Notlage aus dem Ahrtal berichtete. Mit der von ihm zugesagten Hilfe von vision:teilen bekam ich die Möglichkeit, diesmal mit ganz gezielten Sachspenden die Anwohner in Walporzheim in zu unterstützen. Da es nach einer Woche immer noch kein Strom und Wasser vor Ort gab, habe ich notwendige Dinge wie z. B. Gaskocher, Gasflaschen, Trinkbecher und  Akkubetriebene Lampen von der Spende besorgt. Dazu gab es am 22.07. eine Ladung Suppen und frische Brote aus dem Lager von vision:teilen zum Auftanken für die Anwohner und Helfer an der Ahr. 


 

Hilfe, die angekommen ist


Als ich die Brote am 23.07. morgens zur Sammelstelle in Walporzheim gebracht habe, habe ich in strahlende Augen geschaut, denn mit frischem Brot hat man in diesem Ort schon seit einer Woche nicht mehr gerechnet. Auch die beiden Gaskocher kamen sofort in den Einsatz, um für die Helfer Kaffee zu kochen. Manchmal sind es die einfachen Dinge, die den Menschen Kraft geben, um durchzuhalten. Sie haben nicht nur ihr zu Hause und alles persönliche Hab und Gut verloren, sie sind erschöpft vom Ausräumen der Häuser, Stallungen und Weinlager. Und trotz allem - das was ich am meisten vor Ort gespürt habe, war der ununterbrochene Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft untereinander, die Helfer, die von frühmorgens bis spät in die Nacht anpacken - einfach um füreinander da zu sein in dieser schlimmen Zeit. Die Vision zu Teilen wird hier einfach gelebt.


 

Alle helfen mit


Ohne die Weinbauern und Landwirte, die spontan mit ihren Maschinen in die betroffenen Orte und Dörfer angerückt sind, um die Straßen und die Ahr von früh bis spät von den Müllbergen zu räumen, wären die Anwohner dort aufgeschmissen gewesen. Nach einer Woche gab es nun auch einen LKW mit durch Notstrom betriebene mobile Duschen und eine Reihe an Dixies, die durch private Spender an der Sammelstelle des Ortes kostenlos aufgestellt wurden. Nach und nach kamen durch Betriebe aus ganz Deutschland gespendete Arbeitsschuhe, Schüppen, Batterien und Baustellenhandschuhe in der der Sammelstelle an - was mich veranlasst hat, noch den Rest des Tages an der Sammelstelle sortieren zu helfen und mit den Menschen zu sprechen. Eine alte Dame hat mich zum Beispiel nach einer Brille gefragt, da ihr bei dem Unglück verloren gegangen ist. Ein Herr erzählte mir, dass er nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll, weil er keine Elementarversicherung hat, und auch nicht mehr die Kraft hätte von vorne anzufangen. Eine der Mädels aus dem Ort, die mit einem Pappkarton kennzeichnen wollte, wo man sich gegen Tetanus impfen lassen kann (es war ein Raum eines Hauses notdürftig zur Impfstelle umfunktioniert worden), suchte nach einem Farbspray um Hinweisschilder sprühen zu können, während  zwei Bauarbeiter nach Arbeitsschuhen in ihrer Größe suchten, weil inzwischen Nägel und anderer gefährlicher die Straßen säumten. Es war nicht viel zum Ausgeben an der Sammelstelle, sodass jede private Spende, die dort neu ankam, mit Freude entgegengenommen und miteinander geteilt wurde.


Mein Fazit


Es wird noch sehr sehr lange dauern bis die betroffenen Orte der Flutkatastrophe wieder bewohnbar und über neue Brücken befahrbar sein werden. Es sind die Menschen, die durch ihren Einsatz, ihre Zuversicht und Zusammenhalt in der ersten Zeit der Notsituation Brücken gebaut haben. Jedoch vergeht auch diese Zeit der Unterstützung nach einer Weile: Was bleibt, sind Trauer, Not und Menschen, die vielleicht niemanden haben, bei dem sie haben unterkommen können. Es lohnt sich, auch nach einigen Wochen und Monaten nochmal genauer hinzuschauen, wo und für wen in den Regionen der Flutkatastrophe weiter Unterstützung benötigt wird. Ich persönlich werde die vielen persönlichen Schicksale und die Freude über den Zusammenhalt in dieser Zeit der Not jedenfalls nicht so schnell vergessen...  und fahre am Samstag, 31.07., wieder hin, um die Spenden aus meinem Freundeskreis dort hinzubringen. So hat wieder ein Mensch mehr dort frische Socken, Unterwäsche und eine warme Suppe Auffrischen und Kraft tanken.
 
// Martina Pütz, Düsseldorf
 

Menü

Wähle deine Sprache: