Einsam – in einer Stadt voller Leben

Auszüge aus unserem Beiheft in der fiftyfifty-Strassenzeitung - 11|2022 zum Thema "helfende hände"

 

Hand aufs Herz: Haben Sie sich schon einmal so richtig einsam gefühlt, allein gelassen, ausgebremst? Gewiss, so mancher von uns kennt das, wenn es mit Freunden schiefgegangen ist oder Verbindungen, die für das Leben tauglich schienen, sich trennten und uns verletzt und enttäuscht zurückließen.

Aber das zeitweilige Verlassen-Sein und das Gefühl, allein gelassen zu werden, mögen uns einen Vorgeschmack von dem geben, wie es Menschen ergeht, die wirklich einsam sind. Sie leben in einem Umfeld, in dem sie niemanden haben, mit dem sie ihr Empfinden, ihre Gefühle, ihre Verlassenheit teilen können. So manchen von uns trifft diese Situation inzwischen, und das selbst inmitten einer lebensfrohen Stadt wie Düsseldorf. Verarmt, der Partner verstorben, ohne lebendige Freundschaftskontakte – die Konstellation kann wechseln, die Wirkung ist die gleiche: Wir vereinsamen, so wie auf einer Wendeltreppe, die immer tiefer in ein Verlies führt.

Wir alle wissen und spüren es: Wer lange genug sich ausgegrenzt fühlt, hat nicht mehr die Kraft und das Bestreben, den Kontakt mit anderen zu suchen.

Kein Wunder, wer so „ausgegrenzt“ ist, ist durchweg nicht zu sehen, fällt nicht auf, man hört ihn oder sie nicht. Und doch ist es eine wachsende Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die das am eigenen Leib spüren. Es ist wie eine zunehmende Volkskrankheit - die innere und dann auch äußere Vereinsamung und Isolation. Kann man dagegen etwas machen?

Die Antwort heißt: ja. Aber meistens geht es nur so, dass wir diese Mitbürgerinnen und Mitbürger aufsuchen, zu ihnen gehen, ihnen zuhören und sie auffangen, wo sie sind. Es ist eine Aufgabe, die Menschen braucht, die „das Herz auf dem rechten Fleck“ haben und bereit sind, sich auf den Nächsten, den Nachbarn und die Nachbarin, einzulassen – jene Alltagsengel also, ohne die unser Leben oft sehr düster ist. 

 

Helfende Hände – gegen die Einsamkeit
 

Gott sei Dank gibt es eine wachsende Zahl von Nachbarschaftsinitiativen, die begriffen haben: Ohne die eigene Initiative geht es nicht!

Eine von ihnen ist hallo nachbar!, ein Projekt von vision:teilen e.V., die in ganz Düsseldorf tätig ist. 2013 gegründet, hat sie sich der aufsuchenden Hilfe verschrieben, die inzwischen über 140 Ehrenamtliche und ebenso viele vereinsamte „Nachbar*innen“ begleiten. Tendenz: ständig wachsend.

Darauf aufbauend, hat sich 2022 im Raum Rath die Aktion gem:einsam entwickelt, die innerhalb von hallo nachbar das Element der Medienlotsen für ältere Menschen in die Aktion eingebracht hat. Im Bereich Bilk ist der bewusste Schwerpunkt der Ausrichtung auf alleinwohnende, vereinsamte Behinderte in den Blick genommen worden. All das ist hallo nachbar! : aufsuchende Hilfe, die Ehrenamt und das stabilisierende Element der Fachkraft zusammenbringt.

Entscheidend ist dabei, dass professionelle Begleitung schon von Beginn an dafür sorgt, dass die „Nachbar*innen“, die um Hilfe und Begleitung bitten, sich zu Anfang mit einem oder einer Ehrenamtlichen „beschnuppern“ können, um zu entscheiden, ob sie zueinander passen.

Natürlich kann es sich in diesem Prozess erweisen, dass es zuweilen doch nicht wirklich klappt, und dann ist es Aufgabe der zuständigen Sozialarbeiterin, neue Konstellationen zu suchen. Zudem gilt es, durch regelmäßige Fort- und Weiterbildungsangebote und Treffen die Ehrenamtlichen dafür zu sensibilisieren, wo ihre Grenzen sind und ihr Wunsch zu helfen über das Ziel hinausschießt.

Dabei zeigt sich, dass dieser Einsatz beide bereichert: die Ehrenamtlichen und die Nachbar*innen, und oft genug wird aus der aufsuchenden Hilfe ein gegenseitiger Gewinn, eine Freundschaft, die das Leben beider lebenswert macht.

 

Geschichten, wie das Leben sie schreibt

 

„Mein blinder Nachbar“

Aus der Begleitung der Nachbar*innen entwickelt sich oft eine tiefe persönliche Anteilnahme am Schicksal des oder der anderen. Daran erinnert sich Günther* lebhaft:

„Ich mag ihn gern, meinen „Nachbarn“: blind, seit über einem Jahr einseitig gelähmt, das Gehen im Rollstuhl verlernt, heute in einem Altenheim innerlich für sich allein, dennoch geistig rege und jünger als ich selbst. Sein Leben ist kein Zuckerschlecken, aber unsere Freundschaft ist ihm Lebensinhalt. Und mir auch.

Warum ich das schreibe? Nun einfach deswegen, weil mir hallo nachbar! mit den vielen menschlichen Beziehungen ans Herz gewachsen ist – so wie Claus, „mein“ Freund und Nachbar. Schon der Gruß sagt es: hallo nachbar! Du bist mein Nachbar. Du gehörst zu mir, auch wenn wir nicht in derselben Straße leben. Aber Du interessierst mich und ich interessiere mich für Dich. Wir brauchen einander, wir nehmen aneinander teil, wir sind uns nicht gleichgültig.“

 

Nes erzählt von sich

Nes* sagt von sich, dass sie eine leidenschaftliche Podcastering ist. Sie betreibt einen Podcast „Dope & Damaged“ und macht nahezu alles dabei selbst. Denn „lediglich beim Einstellen der Kamera und des Lichts brauche ich Hilfe. Warum? Ich bin blind.

Ich bin in Marokko geboren und kam mit zweieinhalb Jahren nach Deutschland. Bis zu meinem fünften Lebensjahr konnte ich sehen, dann nahm mir ein OP-Fehler das Augenlicht. Ich versuche mein Leben so normal wie möglich zu führen.“ Musik und Events füllen seitdem ihr Leben aus. Sie versucht so selbständig wie möglich ihr Leben zu gestalten. Diese Lebensqualität hat für sie jedoch stark zugenommen, seit sie in Kontakt mit hallo nachbar! gekommen ist.“

Sie selbst unterstreicht das immer wieder. „Seit zwei Jahren“, so Nes, „bin ich bei hallo nachbar! und die Dankbarkeit steht für mich an erster Stelle. Sie erdet einen extrem. Ich weiß es zu schätzen, was die Leute von hallo nachbar! leisten. Meine Ehrenamtlichen heißen beide Christina und wir verstehen uns alle sehr gut. Neulich waren wir zusammen essen und sind vorher beim Shoppen etwas über das Ziel hinausgeschossen. Wir hatten eine Menge Spaß. Ich habe wahnsinnig Glück mit den beiden. Wie das passt mit uns, ist schon toll. Die Leute von hallo nachbar! haben ein gutes Händchen bei der Vorauswahl.“

 

Zurückgeben, weil ich viel bekommen habe.

Sie kommt von weither, und die Idee, sich ehrenamtlich zu betätigen, kam bei ihr erst im Laufe der Zeit. So jedenfalls sieht es Edith* selbst. Sie schreibt:

„Vor inzwischen 18 Jahren bin ich von der Elfenbeinküste nach Deutschland gekommen. Sechs Semester Jura-Studium hatte ich da bereits in der Tasche. Ich hatte ambitionierte Pläne, die wegen meiner Scheidung ins Wasser fielen. Plötzlich stand ich allein da. Durch die herausragende Unterstützung von enggierten Menschen konnte ich wieder Fuß fassen. Ich begann ein Wirtschaftsrecht-Studium. Tagsüber arbeitete ich hart, abends studierte ich und machte erst das Bachelor-, dann das Masterstudium. Heute bin ich sehr dankbar für die Unterstützung, die ich damals bekam. Ich will diese auf irgendeine Weise zurückgeben. Ich suchte in Düsseldorf nach Möglichkeiten mich zu engagieren und fand hallo nachbar!“

Heute begleitet Edith Helene, eine 73-jährige mit Multipler Sklerose, die die Krankheit in den Rollstuhl gezwungen hat. Dabei hat sie eine ganz große Achtung vor Helene und meint: „Wenn ich ehrlich bin, hat Helene ein schlimmes Schicksal. Ihre Art, wie sie damit umgeht, imponiert mir aber ungemein. Sie ist ein fröhlicher Mensch. Trotz aller Rückschläge findet sie immer etwas Positives in den Dingen. Sie gibt mir viel Mut und ist mein Vorbild.“

 

* Namen wurden für die Privatsphäre abgeändert

 

Gemeinsam kommen wir voran!

 

Vor knapp drei Jahren hat hallo nachbar! im Norden Düsseldorfs unter der Leitung der Sozialarbeiterin Jessica Ohly mit dem Projekt gem:einsam eine neue Initiative gestartet, um älteren Menschen in Einsamkeit einen bis dahin oft verstellten Zugang zur digitalen Welt der Kommunikation zu eröffnen. Das Stichwort dafür sind die ehrenamtlichen Medienlotsen, die dort in hallo nachbar! erstmals zum Zuge kommen.

Diese Medienlotsen helfen Menschen im Internet oder mit technischen Geräten fit und selbständig zu werden. Viele Menschen haben den Anschluss an die Digitalisierung verloren und sind so gesellschaftlich abgehängt, gerade in Corona-Zeiten. Viele unserer „Nachbar*innen“ sind einsam und haben häufig keine Unterstützung durch Angehörige. Die Medienlotsen fahren zu den Nachbar*innen nach Hause und schauen ganz individuell wo geholfen werden kann. Dafür können wir den Senior*innen auch Geräte ausleihen, um erstmals zu schauen, ob sie mit der Technik zurechtkommen.“

Was so technisch klingt, bedeutet in der Praxis aber eine riesige Erweiterung der Kommunikation und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dabei bleibt es wichtig, dass alles „mit menschlichem Gesicht“ verbunden ist und hilft, miteinander „Mensch zu sein“ und sich als Menschen mit Mut und liebendem Herzen zu begegnen.

„Gem:einsam gegen einsam“ – dieses Wortspiel zeigt, was die Wirklichkeit uns immer wieder lehrt: Wir kommen immer nur gemeinsam weiter, nie letztlich allein. Dies gilt auch für uns in vision:teilen bei unseren Projekten, die Menschen helfen wollen, die sich oft genug allein am Rand der Gesellschaft wiederfinden.

Für sie sind wir da – für die Vereinsamten und Verarmten durch den Projektbereich hallo nachbar mit seinen Ehrenamtlichen und den vier begleitenden Sozialarbeiterinnen, für die Obdachlosen auf der Straße durch den aufsuchenden gutenachtbus fünfmal pro Woche in der Nacht und durch das Projekt „housing first“ für ehemalige Obdachlose, die damit die Straße dauerhaft verlassen und wieder in das normale Leben integriert werden.

Immer geht es um Mitbürgerinnen und Mitbürger, die am Rande der Gesellschaft und im Schatten unserer Wohlstandsgesellschaft stehen. Für sie sind wir in Düsseldorf da. Dies wollen wir auch weiter tun, und das mit Ihrer Hilfe. Denn nur so werden wir ihnen gerecht.

 

 

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