Behinderte heute - eine neue Sicht

Im Gespräch mit einem Nachbarn mit Behinderung

 

Behinderung hat es immer gegeben, seit es Menschen gibt. Was soll neu daran sein? – Stimmt, würde ich auf den ersten Blick sagen.

 

Was also ist Neues daran? Die Hilfen der Medizin, der Pflege und der Hilfsmittel von operativen Eingriffen über medikamentöser Einstellung bis zu Seh- und orthopädischen Hilfen haben sich gerade auch im letzten Jahrzehnt dramatisch verbessert! Auch die Sicht auf die Behinderung und die Menschen mit Behinderungen hat sich gewandelt, und damit hängt auch zusammen, dass viele von ihnen heute schon selbständig in ihrer angestammten Wohnung leben, und das oft genug allein. Mobile Pflege und Versorgungsdienste machen es möglich.

Also alles bestens geregelt? Auf den ersten Blick vielleicht. Aber wer tiefer hinschaut, spürt bald: So mancher und manche von ihnen leiden unter einem Problem, das uns alle begleitet: das Alleinsein, die Einsamkeit, vor Allem wenn keiner hilft, die eigene Wohnung einmal verlassen zu können. Da leidet die Psyche vor am meisten, und so manches „S.O.S.“ verhallt.

„Wer hilft? Wer ist für mich da?“ Genau da setzt in Düsseldorf „hallo nachbar!“ mit seinen Ehrenamtlichen und der professionellen Begleitung an, und dies vor allem mit einem neuen Projekt, bei dem es speziell um die Sorge für alleinwohnende Behinderte geht.

 

Ein Interview mit Joy Bausch und Martina Brüninghaus

 

„Macht Euch keine Sorge, Joy kommt gleich“.

Unsere Sozialarbeiterin Marieke Schmale hatte vor wenigen Wochen zu einer Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung des Projektes von „hallo nachbar!“ in Oberbilk-Bilk eingeladen. Sie war ganz entspannt, während wir anderen schon auf die Uhr schauten. Genau in diesem Moment kam Joy herein, hochgewachsen, ein Mann in den frühen Vierzigern, allein, mit dem Taxi hergekommen, am Blindenstock als Sehbehinderter kenntlich.

Für ihn überhaupt kein Problem, so schien es, diese täglichen Dinge selbst zu bewältigen, obwohl er vorher noch nie hier war. Marieke begrüßte ihn und führte ihn zu seinem Stuhl.

 

vision:teilen: Hallo Joy, prima, dass wir miteinander sprechen können. Wie ich inzwischen gehört habe, sind Sie Düsseldorfer, haben eine eigene Wohnung und sind berufstätig. Was machen Sie eigentlich beruflich? Und auf diesem Hintergrund: Waren Sie schon von Kindheit an sehbehindert?

Joy Bausch: Hallo. Häufig folgt auf die Frage nach dem Beruf ja gern die Vermutung: “Sie sind bestimmt Musiker, oder, blinde Menschen sind doch sehr musikalisch?”. Und tatsächlich erfülle ich hier zum Teil das Klischee, denn ab und an darf ich auch als Musiker tätig sein. Vor allem bin ich aber Audio-Engineer, sprich Tontechniker mit diversen Nebenaufgaben.

So unterrichte ich auch im Bereich Audio- und Musikproduktion, und hier vor allem Menschen die, so wie ich, seheingeschränkt sind, und denen ich die Möglichkeiten zeitgemäßer Bedienungshilfen nahebringen darf.

Ich bin von Geburt an blind, von daher mit technischen Hilfsmitteln seit Kindheitstagen bestens vertraut und mir ist wichtig, stets auf dem aktuellsten Entwicklungsstand zu sein.

 

vision:teilen: Joy, wie schaffen Sie es, eine eigene Wohnung zu haben, sich selbst zu versorgen und berufstätig zu sein?

Joy Bausch: Meistens ganz gut (lacht). Vieles ist für mich zur Selbstverständlichkeit geworden, zum Beispiel Dinge wie Kochen, Wäsche waschen etc. Wenn Du bereits als Kind zur Selbstständigkeit erzogen wirst, Dir vieles gezeigt und beigebracht wird, und Du auch den Ehrgeiz entwickelst möglichst alles alleine machen zu können, denkst Du irgendwann nicht mehr ständig darüber nach, ob etwas geht, sondern nur noch, wie etwas gehen könnte.

Natürlich gibt es aber trotzdem Grenzen, und hier bin ich, genau wie alle Menschen mit einer Einschränkung, auf Hilfe angewiesen. Ich spreche hier gern davon, ab und zu doch mal “ein paar Augen” zu brauchen.

 

vision:teilen: Ich stelle mir vor, dass es gerade in der Zeit der Pandemie mit den Abstandsgeboten außerordentlich schwierig für einen Sehbehinderten ist, seinen alltäglichen Dingen nachzugehen, einzukaufen usw. Wie wirkte und wirkt sich das für Sie aus?

Bausch: Das stimmt. Gerade im ersten Jahr der Pandemie war die Unsicherheit da sehr groß. Allein die korrekten Abstände einzuhalten wurde zur Herausforderung; schließlich möchte man ja niemandem ungewollt zu nahetreten. Deshalb bedurfte es auch einiges mehr an Zeit und Überwindung, sich nach den Lockdowns wieder ins “alltägliche” Leben zurückzufinden, so zum Beispiel den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen oder allgemein unterwegs zu sein.

 

vision:teilen: Und wie kamen Sie zu „hallo nachbar!“ – und zu Martina, die als Ehrenamtliche von hallo nachbar inzwischen für Sie wie eine Freundin geworden ist?

Joy Bausch: Das lief über den Düsseldorfer Blinden-Verein. Dort hatte ich mich bereits vor der Pandemie nach Hilfe erkundigt. Eine große Herausforderung für eine alleinlebende blinde Person ist der Bereich Post und Formalitäten.

Da ist auch heute noch zu vieles nicht barrierefrei genug, und es bedarf des bereits erwähnten “Paar Augen”, um sich durch den Unterlagendschungel zu kämpfen. Genau das haben Martina und ich getan, und sie hat mir von Anfang an unglaublich viel geholfen. Mit dem ersten Lockdown kam dann auch das gemeinsame Einkaufen dazu, verbunden mit einem Spaziergang. Und so ist es bis heute geblieben.

 

vision:teilen: Martina, wie sehen Sie ihren ehrenamtlichen Einsatz bei Joy? Wie helfen Sie ihm, und was macht das mit Ihnen selbst?

Martina Brüninghaus: Da ich mich im Rahmen meiner Berufstätigkeit ganz überwiegend mit Zahlen und eher analytischen Sachverhalten auseinandersetze, ist der Freitagvormittag mit Joy für mich immer eine sehr willkommene Abwechslung. Inzwischen kennen Joy und ich uns schon einige Jahre und den ‚Papierkram‘ haben wir so gut im Griff, dass mehr Zeit zum Quatschen, Spazieren und Einkaufen bleibt.

Joy ist ein interessanter und vielseitig interessierter Mensch. Ich denke, der Gesprächsstoff wird uns nie ausgehen. Abgesehen davon bewundere ich sehr, wie er im Alltag klarkommt. Das Zusammensein mit Joy beeinflusst meine Wahrnehmung der Dinge. Ich versuche die Welt vielschichtiger und nicht überwiegend visuell wahrzunehmen. Das ist sehr bereichernd.

 

vision:teilen: Joy, Sie haben sich durchgekämpft gegen alle Probleme auf Grund Ihrer Sehbehinderung. Wie, denken Sie, geht es ihren Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls durch ihre körperliche Behinderung stark eingeschränkt sind? Wirkt sich das nicht auch auf die Psyche aus? Was würden Sie ihnen raten, wenn das Alleinsein schwer wird?

Joy Bausch: Natürlich tut es das, bei uns allen. Ich habe von blinden Bekannten und Freund*innen gehört, die sich komplett und dauerhaft isoliert hatten, selbst dann, als viele von uns im Sommer schon wieder draußen unterwegs waren. Natürlich erlebte in dieser Zeit das Telefonieren eine unerwartete Renaissance, und ich denke, dass uns die Anrufe, die Zoom-Calls und sämtliche anderen Formen sozialer Medien oft das Alleinsein leichter machen konnten. Das wäre auch mein Rat, für eventuelle zukünftige Lockdowns, aber natürlich auch allgemein: in Kontakt bleiben und Kontakte suchen, gemeinsame Zeiten genießen und wertschätzen, und die Courage aufbringen, auch Neues auszuprobieren.

 

vision:teilen: Herzlichen Dank Euch beiden. Es tut einfach gut mitzuerleben, wie Eure Begegnung Euch beide bereichert und stützt.
Gut, dass es Euch und dass es „hallo nachbar!“ gibt, die Menschen wie Euch beide zusammenbringt, vor allem wenn das Alleinsein mit der Behinderung schwer wird.

 

Neues Projekt im Stadtbezirk 3

 

„Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein sehr großer Teil unserer bedürftigen Nachbar*innen alleinwohnende behinderte Mitbürger*innen sind. Auf Grund dieser Erfahrung und mit dem Ziel, noch mehr als bisher im Raum Oberbilk-Bilk präsent zu sein, haben wir uns in vision:teilen entschlossen, mit Marieke Schmale als Sozialarbeiterin und Leiterin für den zuständigen Stadtbezirk das Projekt zu erweitern und gezielt Menschen mit Behinderungen anzusprechen. Gerade sie brauchen den Kontakt und den Anschluss an die Gesellschaft!

Seit Anfang Januar 2022 hat Marieke mit finanzieller Unterstützung zweier Düsseldorfer Stiftungen, die die Finanzierung für das erste Jahr übernommen haben, dieses neue Projekt von „hallo nachbar!“ begonnen.

Neben dem gezielten Zusammenführen von Ehrenamtlichen und Menschen mit Behinderungen bietet Marieke nun zusätzliche Schulungen an, in denen Ehrenamtliche im Hinblick auf den Umgang mit ihren Nachbar*innen mit besonderen körperlichen und seelischen Einschränkungen vorbereitet werden. Nicht zuletzt gehört dazu, dass manche der neuen Nachbar*innen durch Seh- oder Gehbeschwerden monate- und zum Teil jahrelang nicht in der Lage waren, ihre Wohnung zu verlassen und nur den persönlichen Kontakt des Service-Personals kennen.

Hier wirkt die ehrenamtliche Begleitung durch hallo nachbar! zuweilen wie eine wirkliche Erlösung und bringt einen großen Gewinn an Lebensqualität, auf die viele lange gewartet haben. Was Marieke dazu motiviert, so viel für ihr Umfeld zu tun, ist für sie klar.

Anderen Menschen zu helfen ist kein Hexenwerk. Oft helfen kleine Dinge, die für einen selbst selbstverständlich sind, die für andere aber aufgrund ihrer Lebenssituation nicht machbar sind. So ist es zum Beispiel für Sehbehinderte schwierig, alleine ein Behördenformular auszufüllen; für Gehbehinderte ist es schwierig, auf einen Stuhl zu klettern und eine Glühbirne zu wechseln;

Menschen mit seelischer Behinderung wie einer Depression brauchen einen Ansporn für Spaziergänge. All das sind Dinge, bei denen Ehrenamtliche helfen können, und die den Nachbar*Innen am Ende oft mehr bedeuten, als nur die reine Tätigkeit. Oft entstehen dabei schöne Momente mit wertvollen Gesprächen.“

 

Wenn Sie sich im Stadtbezirk 3 ehrenamtlich engagieren möchten, melden Sie sich gerne bei:

Marieke Schmale unter: 0211-153060 oder hallo-nachbar@vision-teilen.org oder untertsützen Sie uns finanziell!

Ihr hallo nachbar! Team

   

 

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