Ausblick

Auszüge aus unserem Beiheft in der fiftyfifty-Strassenzeitung - 04|2021 zum Thema "ausblick"

 

„hallo nachbar!“ und gem:einsam, Zusammen gegen Einsamkeit

 „Mensch, lass mich in Ruhe!“ Kennen Sie das auch? - Wenn es mir zu viel wird, will ich abschalten, meine Ruhe haben. Jedenfalls für einen Moment. Denn allzu lange halten wir erfahrungsgemäß diese Ruhe gar nicht aus. Wir spüren vielmehr: Wir brauchen den Kontakt zu andern!

Was aber, wenn der abbricht? Oder gar nicht da war? Was tun, wenn wir völlig vereinsamt sind? Wer blind oder taub oder gehbehindert an seine Wohnung gebunden ist, der kennt vielfach die lähmende, zuweilen tödliche Einsamkeit und den Weg der Vereinsamung.

Ist das Science Fiction oder doch ein ganzes Stück Wirklichkeit? Mittlerweile sind dauerhafte Einsamkeit und noch mehr die Vereinsamung als eine Krankheit erkannt. Was aber dagegen tun? Wie den Weg aus der Vereinsamung ebnen, so dass sie überwunden werden kann?

Für Julia Ritter, Sonja Vandamme und Jessica Ohly, die Sozialarbeiterinnen von „hallo nachbar!“ und „gem:einsam“ in vision:teilen, ist dies Beruf und Lebensinhalt zugleich.

Es braucht nicht viel Fantasie, um festzustellen: Wir gehen auf immer mehr Einsamkeit und Vereinsamung zu. Da lohnt es sich, sich zu fragen: Geht das auch mich an? – Ich denke und vermute: Ja!

 

Ein Gespräch mit Julia Ritter, Sonja Vandamme und Jessica Ohly

Julia Ritter (36 J.) ist Sozialarbeiterin und Leiterin von „hallo nachbar!“, Sonja Vandamme (33 J.) Sozialarbeiterin bei „hallo nachbar!“ und Jessica Ohly (25 J.), ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin und, ebenfalls als Sozialarbeiterin, Leiterin von gem:einsam. Julia und Jessica haben letztes Jahr die Leitungen beider Projekte übernommen.

Wir haben mit den drei Vertreterinnen der beiden Projekte das Gespräch geführt, um uns zu fragen: Was ist das Besondere in beiden Projektbereichen?



v:t : Julia und Jessica, Sie leiten beide ein Projekt, das sich die aufsuchende Hilfe für Menschen in Einsamkeit und Vereinsamung auf die Fahnen geschrieben hat. Seit wann und warum gibt es „hallo nachbar!“ und gem:einsam? Und worin unterscheiden sich beide Projekte?

Julia : „Das Projekt „hallo nachbar!“ gibt es seit 2013 und entstand aus der Idee einsamen Menschen in der Nachbarschaft, die wir als Nachbar*Innen bezeichnen, beizustehen, Alltagsunterstützung anzubieten und sie durch die Vernetzung mit Angeboten in ihrem direkten Wohnumfeld schrittweise aus ihrer Einsamkeit wieder herauszuführen.“

Jessica : „Das Projekt gem:einsam gibt es seit Oktober 2020, hat dasselbe Ziel wie „hallo nachbar!“, fokussiert sich aber gleichzeitig auf den Stadtbezirk 6. Diese Idee kam zustande, da es speziell in diesem Stadtbezirk viele Hilfsanfragen, jedoch wenig Ehrenamts-Interessierte gab. Ein wesentlicher Unterschied zu „hallo nachbar!“ stellt die Begleitung durch die sogenannten „Medienlotsen“ dar. Das sind Ehrenamtliche, die den einsamen Menschen Internet und Medien niederschwellig näherbringen.

v:t : Wie kümmern Sie sich um Menschen in Vereinsamung? Machen Sie das allein oder haben Sie Helferinnen und Helfer?

Julia : „Nein, wir kümmern uns nicht alleine um die hilfsbedürftigen, einsamen Menschen. Das Herzstück unserer Arbeit bilden die ehrenamtlich Engagierten. Seit der Entstehung des Projekts ist die Zahl dieser bei „hallo nachbar!“ stetig gestiegen und umfasst nun etwa 130 Ehrenamtliche. Sonjas, Jessicas und meine Aufgaben bestehen hauptsächlich darin, die Ehrenamtlichen und Nachbar*Innen zu finden, zusammen zu führen und zu begleiten. Wir fungieren als Ansprechpartnerinnen für die Ehrenamtlichen und Nachbar*Innen bei Fragen, Sorgen und Problemen.“

v:t : … und natürlich liegt die Frage auf den Lippen: Wie kommen Sie an den Kontakt mit den Menschen in Einsamkeit und Vereinsamung?

Jessica : „Die einsamen Menschen melden sich meist telefonisch bei uns, weil sie beispielsweise auf einen Flyer bei ihrem Arzt auf uns aufmerksam wurden, oder durch unsere enge Kooperation mit anderen Einrichtungen.“

Julia : „Außerdem besteht eine sehr gute Vernetzung mit der Stadt Düsseldorf, die wir Organisationen wie dem Seniorenrat, Pflegebüro, sozialpsychiatrischen Dienst und der aufsuchenden Seniorenhilfe zu verdanken haben. Diese ermöglicht den Austausch und Unterstützung auf kurzen Wegen, um den individuellen Anfragen schnellstmöglich gerecht zu werden.“

Sonja : „Hinzu kommen beispielsweise Kontakte über Familienangehörige, Nachbar*Innen oder Pflegedienste bzw. Therapeuten, die sich an uns wenden, weil sie jemanden kennen oder betreuen, der Unterstützungsbedarf hat.“

v:t : Häufig ist heute die Rede davon, dass Corona einen Schub bei den digitalen Kontakten gebracht hat. Gilt das auch für die Begleitung Ihrer „Nachbarn“?

Jessica : „Wie bereits gesagt, liegt einer der Schwerpunkte von gem:einsam auf der Begleitung durch Medienlotsen. Durch Corona gibt es durchaus vermehrt Nachbar*Innen, die sich im Bereich der digitalen Medien Unterstützung wünschen, um weiterhin in Kontakt mit Familienangehörigen oder anderen Personenbleiben zu können. Hierdurch wurde die Digitalisierung bei älteren Menschen mehr ins Bewusstsein gerückt, da vor allem die ältere Generation oft keinen Anschluss an dieses digitale Zeitalter finden konnte oder auch wollte.“

v:t : Ganz herzlichen Dank. Da bleibt nur, die Daumen zu drücken, dass Sie möglichst vielen Menschen in Einsamkeit und Vereinsamung helfen können, den Weg zur Gesellschaft zurück zu finden.

 

Medienlotsen bei vision:teilen Wie geht das?

Offen gestanden, als ich das erste Mal davon hörte, dass gerade älteren Menschen, die an ihr Zuhause gebunden sind, der Zugang zu den digitalen Medien eröffnet werden soll, da habe ich mich gefragt: Wie soll das gehen? Das ist für die doch eine fremde Welt – und im Alter fällt das Lernen immer schwerer!

Erst der „Blick hinter die Kulissen“ hat mir gezeigt, dass das gar nicht so abwegig ist, wie es klingen mag. Denn auch und gerade für Ältere, die ihre Zeitung nicht aus der untersten Etage in die Ihre holen können und für die es nötig wäre, ganz große Buchstaben vor sich zu haben, um sie lesen zu können – für all diese und viele Mehr bietet die digitale Welt zweifellos ganz neue Hilfen an.

Gerade Jessica, die jüngere der beiden Sozialarbeiterinnen, ist da ganz in ihrem Element. Denn sie hat letztes Jahr zusammen mit Julia begonnen, unter ihren Ehrenamtlichen junge Menschen zu finden, die mit viel Einfühlungsgabe auf die Probleme der Älteren eingehen. In ihrem Workshop für angehende „Medienlotsen“ ist sie ganz zu Anfang zuerst einmal auf die allerersten Fragen eingegangen, die Menschen bewegen, denen die digitale Welt ein Buch mit sieben Siegel sind. „Was ist ein Handy?“ „Wie mache ich es an – und wieder aus?“ „Wie komme ich ins Internet – und was ist das?“ Gewiss, für „alte Hasen“ ist das ein „kalter Kaffee“. Aber leider nicht für Menschen über 70 oder gar 80. Sie sind sozusagen „Analphabeten“ der digitalen Welt. Und doch sind sie darauf letztlich so angewiesen!

 

Ich freue mich, dass hier Jung und Alt, digitalmächtige Lotsen und digital-ohnmächtige ältere Menschen, zusammenfinden. Gewiss, Corona erschwert den Besuch zuhause und den Blick über die Schultern. Aber wie heißt es so schön: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ – und die Fantasie gefordert, um zueinander zu finden!

Diese Fantasie finde ich bei „hallo nachbar!“ und „gem:einsam“ reichlich vertreten und das macht nicht nur Freude, sondern auch Zuversicht: Sie werden es packen – den Weg zum Nächsten. Auch bei Corona.

 

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