Die Wolldecke

Erschienen im Meerblatt 1/2023, der VHS Meerbusch

 

Die langjährige Unterstützerin unseres Vereins und des Gutenachtbusses, Ulrike Kamp-Rettig, hat in ihrem Beitrag für die Zeitschrift „Meerblatt“ der VHS Meerbusch einen ganz besonderen Moment eingefangen – einen Moment in welchem sie erkennen konnte, wie sehr Sachspenden den Menschen helfen.  

Wir möchten auch euch die Möglichkeit geben, an diesem Moment teilzuhaben. Daher findet ihr den Artikel hier:

Die Wolldecke

Neben den Einkaufswagen vor dem Super Markt verkauft wieder jemand das „fiftyfifty“- Magazin, und heute kaufe ich eins. Zu Hause bin ich erst einmal mit dem Ausladen meiner Einkäufe beschäftigt, lege das Magazin achtlos auf den Stapel der anderen noch ungelesenen Magazine, Hefte, Werbeblättchen und Flyer und vergesse es wieder. Am nächsten Tag, beim Frühstück, ziehe ich es hervor, blättere darin herum, lese mit zunehmendem Interesse einige Artikel, blättere weiter – und erstarre!

Mein Blick fällt auf ein Foto, es nimmt etwa ein Drittel der Seite ein. Es zeigt einen Mann, der, zugedeckt mit einer Wolldecke, auf einer Bank oder auf dem Fußboden liegt, den Kopf auf ein Stück Pappkarton gebettet, und schläft. Man sieht sein Gesicht, eine Hand, eine schwarze Kapuze. Es ist nur ein Ausschnitt, ich kenne den Mann nicht, es ist diese dunkle, auffällig gemusterte, ihn bis zum Hinterkopf umhüllende Decke, die meine Aufmerksamkeit erregt. Schauer laufen mir den Rücken herunter, und allmählich verstehe ich. Es ist die Wolldecke meiner Kindheit, auf dem Foto vermutlich mit einem Filter abgedunkelt.

In meiner Erinnerung ist sie rot, weiß, grün, gelb und schwarz, in Dreiecken gemustert. Es war eine kontrastreiche, wenn auch nicht gerade harmonische Farbkomposition, die Decke überzeugte aber durch ihre Größe und ihre schwere, leicht gefilzte Wollqualität, die unter anderem beim Camping an der Küste sehr gute Dienste leistete – und etwas Schöneres als Camping konnte ich mir damals gar nicht vorstellen. Es müssen meine ersten Ferienerlebnisse gewesen sein: Sonne, Sand und Meer, ich als knapp Fünf jährige mit meinen jungen Eltern in einem olivgrünen Spitzgiebelhauszelt, auf grauen, drei geteilten Luftmatratzen, die einen eigenartigen Geruch von Wachsbeschichtung verströmten. Ich war die einzige von uns dreien, die in dem Zelt aufrecht stehen konnte, meine aus gestreckten Arme reichten nicht bis oben, es war ein Haus für Kinder. Und nachts, wenn es kühl wurde, kam die Wolldecke zum Einsatz. Sie war zwar etwas kratzig am Kinn, aber insgesamt ein riesiger, warmer, bunter Kokon Ob meiner Mutter viele Jahre später ebenfalls Zweifel an der Farbkomposition kamen, pflege leichtere Materialien bevorzugt wurden oder die Art des Urlaubs sich geändert hatte, weiß ich nicht mehr – jedenfalls rettete ich die Decke damals vor der Altkleidersammlung durch Übernahme in mein Material Depot, weil sie, ähnlich wie ein alter Teddybär, herzerwärmende Zeiten im Zelt repräsentierte.

Für den bärtigen Mann auf dem Foto wird sie gerade groß genug gewesen sein, um sich damit zuzudecken. Ich hatte sie vor einigen Jahren unserem Nachbarn mitgegeben, nachdem er mir erzählt hatte, dass er an winterlichen Samstagen in Düsseldorf den „Gutenachtbus“ fuhr, der Obdachlose mit heißen Getränken und warmen Decken versorgte. Die Wolldecke, bei uns schon lange nicht mehr in Gebrauch, hatte dank Lavendelduft viele Jahre im Schattendasein unbeschadet überstanden und nun einen neuen Einsatzort gefunden. Wenn der Bärtige nicht zu groß ist, reicht sie ihm vielleicht bis über die Füße. – Ob er wohl warme Schuhe hat? Ich glaube, auf dem Speicher steht noch ein Paar lammfellgefütterte Winterschuhe, die keinem von uns passen. Ich werde mal unseren Nachbarn fragen, ob er den Bus noch fährt.

 

Diese Geschichte wurde mit der Erlaubnis der VHS Meerbusch geteilt. Weitere Artikel der Zeitschrift Meerblatt findet ihr hier. Vielen Dank für den tollen Artikel!

 

>>>Jetzt Spenden!!

Menü

Wähle deine Sprache: